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Offener Brief an Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee zum Abriss der ehemaligen Schokoladenfabrik Greußen

12. Januar 2022

Sehr geehrter Herr Minister,

der geplante Abriss der ehemaligen Schokoladenfabrik an der Schwarzburger Straße in Greußen und dessen Förderung aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) stößt auf großes Unverständnis kulturell und baulich interessierter Akteure im Freistaat Thüringen und des Bund Deutscher Architektinnen und Architekten, BDA Thüringen.

Haben die Zeugnisse der Thüringer Industriebaukultur nicht etwas anderes verdient?

Berufsverbände wie der BDA haben erkannt, dass der Bausektor von seinem bisher extremen energie- und materialintensiven Errichten und Betreiben von Gebäuden Abstand nehmen muss, um hier einen maßgeblichen Beitrag zu leisten, der ressourcensparend wirkt und auf Umweltbelastungen reduzierend agiert.

Mit dem Manifest „DAS HAUS DER ERDE“ von 2019 verbindet der BDA die politische Forderung, das Bauen vermehrt ohne Neubau auskommen muss: „Priorität kommt dem Erhalt und dem materiellen wie konstruktiven Weiterbauen des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfertigem Abriss“.

Die ‚graue Energie‘, die vom Material über den Transport bis zur Konstruktion in Bestandsgebäuden steckt, wird ein wichtiger Maßstab zur energetischen Bewertung sowohl im Planungsprozess als auch in den gesetzlichen Regularien. Wir brauchen eine neue Kultur des Pflegens und Reparierens.

Gesellschaftliches und politisches Umdenken sind dringend erforderlich.

Ein Abriss in Greußen ignoriert die vorhandene Ressource und vernichtet die bereits verbrauchte Energie beim Errichten der ehemaligen Schokoladenfabrik und wird als Geld- und Ressourcenverschwendung wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist dies auch ein schmerzhafter Verlust an lokaler und regionaler Identität.

Falls in Greußen –mit ausreichend Flächenpotentialen für die Errichtung eines Gewerbestandortes an anderer Stelle im Gemeindegebiet ausgestattet– doch ein Rückbau vollzogen werden muss, so regen wir eine sinnvolle Wiederverwendung der Baustoffe, d.h. Natursteine, Klinker, Stahlträger, Pflastersteine etc. dringend an.

Bevor dies aber als ‚Ultima Ratio‘ gesehen wird, gilt es unserer Auffassung nach, das Potential der ehemaligen Schokoladenfabrik Greußen näher zu betrachten.

Die vorhanden Flächen- und Raumpotentiale sind in jedem Fall sehr gut geeignet für Wohnen und kleinteiliges Gewerbe und könnten so einem Industrieareal mit Geschichte und Bedeutung für die Stadt Greußen eine Entwicklungsperspektive geben. In unmittelbarer Nähe zum Bahnhof, gut zwischen Erfurt und Nordhausen gelegen, ein perfekter Wohnstandort. Die Substanz mit wertigen Baustoffen und Baukonstruktionen errichtet, kann zunächst durch Sicherungsmaßnahmen in einen sanierungsfähigen Zustand versetzt werden.

Studierende der Fachrichtungen Architektur und Bauingenieurwesen der Fachhochschule Erfurt unter Leitung von Prof.in Stephanie Kaindl und Prof. Ralf Arndt bearbeiten derzeit im Rahmen Ihrer Masterthesis die ehemalige Schokoladenfabrik und suchen bis Mitte 2022 nach neuen Nutzungsmöglichkeiten. Lassen wir uns doch von den Ideen der nächsten Architektengeneration zur Neunutzung der Fabrik anregen!

Der BDA bekennt sich in seiner Programmatik und baupolitischen Diskussion zu dieser Vorgehensweise. Zunächst hat die Sicherung des Bestandes Priorität. Die Nutzungsüberbrückung des gesicherten Bestandes mit geeigneten temporären Nutzungen als ‚Sicherungsstrategie‘ ist möglich. Abschließend sind attraktive Neunutzungen in historischen Gebäuden und Ensembles die Chance den Bestand zu bewahren und weiter zu nutzen.

Dies würde aus unserer Sicht einen wesentlichen Beitrag zur Abkehr von unserer verbrauchsorientierten Wirtschaftsweise im Bausektor darstellen.

Industriekulturelle Identitäten zu vernichten ist leicht, sie neu zu schaffen ist unmöglich.

Wenn Sie, Herr Minister Tiefensee, den Abriss dieser baukulturellen Identitäten mit der Neuansiedlung von Gewerbeflächen gleichsetzen – verpassen wir wiederum eine Chance im Freistaat Thüringen.

Der Landesverband Thüringen des BDA macht eine Verpflichtung aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte zum Erhalt des Schokoladenfabrik Greußen geltend. Dies kann nach Einschätzung des BDA aber nur gelingen, wenn alle politischen Kräfte in Würdigung und Akzeptanz ihrer kulturellen Verpflichtung gegenüber der Thüringer Industriekultur sowie der Thüringer Gesellschaft an sich in einheitlicher Überzeugung zusammenwirken.

Dem BDA stellt sich die Frage, ob für die Würdigung eines derart bedeutenden Zeitzeugen der Thüringer Industriegeschichte alle Mittel und Wege zur Sicherung und zur Finanzierung einer Sanierung und Nutzung vollständig ausgeschöpft wurden.

Das im Idealfall nach einer Gebäudesicherung, eine passende Nutzungsfindung und Initiierung einer denkmalgerechten Sanierung der Schokoladenfabrik Greußen gelingen kann, wie in anderen Thüringer Städten bereits mehrfach unter Beweis gestellt, braucht zunächst aber politischen Willen, den Sie Herr Minister Tiefensee, erzeugen können und für die Fördermittel auch vertreten müssen.

Vernichtung von Industriekultur ist keine adäquate Antwort.

Unsere größte Sorge ist ein Abbruch der Schokoladenfabrik und eine anschließende Gewerbeflächenentwicklung, die in den kommenden 10-20 Jahren keine Gewerbeansiedlung erfährt, da der Bedarf für Gewerbeflächen in Greußen auch anderweitig angeboten werden kann.

Der BDA Thüringen bietet einen offenen Dialog mit den politischen Verantwortlichen der Stadt Greußen und den zuständigen Vertretern des Ministeriums an, um dem Erhalt der Schokoladenfabrik eine Chance vor dem unwiederbringlichen Verschwinden einzuräumen.

 

Hochachtungsvoll

 

Michael Rommel

stv. Landesvorsitzender

im Namen des Landesvorstandes und aller Mitglieder des BDA Landesverbandes Thüringen

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